REALISMUS IN DER KUNST UND SEINE POLITISCHE DIMENSION

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts waren einfache Menschen, die Unterschicht, einfache Lebenswelten, Alltägliches, auch die Arbeitswelt in der Kunst, in der Malerei, in der sozusagen offiziellen Kunst nicht darstellungswürdig. Im 19. Jahrhundert änderte sich das durch avantgardistische französische Künstler, die sich von den Normen der Akademie befreiten. Fortan entstand Kunst, gesellschaftliche Verhältnisse thematisierend. Aneignung, Beschreibung der Wirklichkeit, Alltäglichkeit und Sachlichkeit transformiert in das Kunstwerk, mit politischer Konnotation, ist charakteristisch für den entstehenden Realismus. Plein air gemalt, abseits des Ateliers des Künstlers, wurde die Lebenswelt unterer Bevölkerungsschichten Sujet, die Idealisierung des Schönen war nicht mehr Thema. Die Idee zur Beschreibung der Wirklichkeit, ein konzeptueller Ansatz bezogen auf die politische Dimension der Darstellung, das ist das Wesen der demokratischen Kunst von Gustave Courbet.

FOTOGRAFIE UND REALISMUS

Im Kontext der mimetischen Qualität der Fotografie, der ureigenen Fähigkeit einer detailgenauen Aufzeichnung des Wirklichen, des so ist es gewesen, der aus dem Faktischen vor dem Objektiv entstehenden Wahrheit, entsteht das realistische dokumentarische Bild, wird durch konzeptuellen Ansatz in die Kunst transformiert. Fotografie wird zum einzigartigen Medium, zur analytischen Beobachtung und Darstellung der Lebenswelt, des Handelns der Gesellschaft, der sozialen Verhältnisse, des Zeitgeistes. Ergänzend ist dann eine Rezeption der freien Sicht auf das Bild erforderlich, ein Standort, von dem aus das Dargestellte aus der Distanz mit notwendiger Objektivität betrachtet wird. Dabei darf es nicht darum gehen, was man sehen will, was man nicht sehen will, oder einfach nicht mehr sehen kann (Konditionierung durch Manipulation und Beeinflussung). Die Perspektive des Betrachters, des Rezipienten ist also für einen Erkenntnisgewinn entscheidend.

JEFF WALL

DER REALISMUS DES KANADISCHEN FOTOKÜNSTLERS

Menschen im Wohlstand sind auf seinen Bildern nicht zu sehen. Es sind oft Angehörige der Unterschicht, von den Rändern der Gesellschaft, Benachteiligte, sozusagen Ausgegrenzte, prägnant etwa auf dem Werk THE STORYTELLER. Da sind es offenbar Natives, Menschen indianischer Abstammung, verdrängte Ureinwohner des Landes. Sein Werk MEN WAITING, ein Schwarzweiß-Tableau 262 x 388 cm groß, zeigt herumstehende, wartende Männer in eher unwirtlicher Umgebung. Habitus und Gestus wenig positiv, Apathie ist erkennbar. Sind es Tagelöhner, sind es Arbeitslose? Auf was warten sie? Es sieht hoffnungslos aus, nach Hilfsbedürftigkeit. Ja, wer wird Ihnen helfen in der kalten, kapitalistisch determinierten Welt des Westens? Protagonisten des kanadischen Fotokünstlers Jeff Wall also sind, wie einst in der Malerei von Courbet, Menschen unterer Schichten in schwieriger Lebenslage, in ökonomischer Notlage. Walls Werke mit abgebildeten Menschen aber entstehen durch Inszenierung, unter dem Aspekt des Filmischen. Der Fotokünstler führt Regie, an einem Ort seiner Wahl, die Dargestellten sind Schauspieler. So gruppiert und komponiert Wall sein idealisiertes Bild von Menschen in Not und Elend. Dann hat der Künstler Zeit, mit der langsamen Großformatkamera ein technisch makelloses Negativ der Szenerie zu belichten, eine notwendige Voraussetzung für die Erstellung eines Exponates in großer Dimension. Diese idealisierte Szenerie scheint mir aber am Mangel des Authentischen zu leiden, eine Pseudowirklichkeit transformiert wird Kunst. Realismus? Die Rezipienten werden mit einer Fiktion im großen Format überwältigt, es ist ein Fake. Das mag erklären, warum das Kunstwerk in einer Sammlung des Establishments integriert ist. Ein Bild der klassischen Street Photography, ein authentisches Bild eines Bettlers von der Straße, Realismus, würde da wohl kaum einen Platz haben, ist in den Programmen kommerzieller Galerien nie zu finden.

KLAUS GRAUBNER

KONZEPTUELLER REALISMUS
MEN WAITING_TOULON_MARSEILLE 2012

Die Arbeiten dieser Ausstellung entstanden 2010 - 2012 bei Rundgängen in den Straßen von Toulon und Marseille. Street Photography mit der Handkamera, en passant, mit einem 35mm Objektiv, erlaubt eine unmittelbare, wirkliche, authentische Darstellung der Protagonisten, der urbanen Szenerien. Ungleiche Lebensverhältnisse in der exzessiv kapitalistisch determinierten Gesellschaft der EU, des Westens, werden auch im Süden Frankreichs, in Zeiten fortschreitender Globalisierung sichtbar.