"Die Architektur zählt die Tage"

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Noch immer wird Stahl gebraucht, und sei es für Kanonen ( und Schlimmeres). Doch heute kommt er aus fernen Landen, wie weiland Gold, Weihrauch und Myrrhe aus dem Morgenland, von dort, wo Arbeitskraft noch billiger zu haben ist als hierzulande, wo sie, da zu teuer, schon gar nichts mehr wert ist. Seltsame Ironie: Die Schlange beißt sich in den Schwanz, der Kolonialismus frisst seine Kinder.

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Die Ruinen einer ruinenseligen Epoche avancieren zu Erlebnisparks. Sie zu konservieren fällt nicht eben leicht - die Burgen des Mittelalters konnten wenigstens nicht rosten. Das harte Eisen ist verletzlich, vergänglicher als weiches Gold, und der allgegenwärtige Sauerstoff ist unerbittlich. So unabdingbar er für die Erhaltung des Lebendigen ist, so zerstörerisch für alles, aus dem das Leben gewichen ist. Ruinen aber leben davon, dass sich die Natur zurückholt, was man ihr genommen hat.

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Klaus Graubner, seit 1987 mit Vorliebe an der Peripherie der Städte unterwegs, auf Eisenbahnstrecken und Landstraßen, hat mit der Kamera die verlassenen Raubritterburgen des Kapitalismus festgehalten, bevor Konservatoren und Animateure sie in ihre Obhut nahmen. Er hat dem Denkmal ein Denkmal gesetzt, bevor es zu einem solchen erstarrte. Die faszinierende Sinnlichkeit dieser Dinosaurier des technischen Zeitalters ist in Graubners Bildern ebenso lebendig wie ihr Sterben, und aus genau dieser Spannung resultiert ihre Kraft:Das Nichtabbildbare wird ahnbar, das Geheimnis der Zeit.

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Was uns an Fabriken und Maschinen des vorigen Jahrhunderts am meisten bewegt, ist letztendlich ihre anthropomorphe Anschaulichkeit. Sie sind im Grunde "Fleisch von unserem Fleisch", und sie funktionieren auf in mehrfacher Hinsicht analoge, jedenfalls prinzipiell nachvollziehbare Weise - sehr im Gegensatz zur radikalen Abstraktion heutiger binärer Systeme, die sich jeglicher Wahrnehmbarkeit entziehen, sich nachhaltig unseren Sinnen verweigern. Ist es so weit, wie kürzlich auf einem Symposion zu hören war, dass "spätestens im Jahr 2020, ... vielleicht auch schon 2010,... Computer (können) was Menschen können, denn die maschinelle Evolution ist zehnmillionenmal schneller als die natürliche. Computer bauen dann Computerfabriken, die Roboter produzieren, die dem leider nur mit Sinnen "für Steinzeit-Stammesbedingungen" ausgerüsteten Menschen dann einen Nischenplatz auf der Erde oder im Weltraum zuweisen"?1 Sollte die neuplatonisch-christliche Leibfeindlichkeit doch letztlich den Sieg davontragen, die Paradiesesschlange doch noch ihr Versprechen, "Eritis sicut Deus", eingelöst haben? Graubners Völklingenbilder sind menschenleer. Aber die expressive Gestik dieser Architektur verweist mit Nachdruck auf ihren Schöpfer.

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Kunst, sagt Ad Reinhardt, ist Kunst, und alles andere ist alles andere. Graubners Bilder sind mit seinen eigenen Worten, "nicht Dokument, nicht subjektive Fotografie, nicht Bild als Bild"2, man könnte auch sagen, sie sind nichts von alledem ausschließlich, und doch all dies zusammen. Sie balancieren, zumeist und bezeichnenderweise ihr Objekt aus der Augenhöhe des Betrachters und vorzugsweise von allgemein zugänglichen, mitunter erhöhten, Standpunkten avisierend, auf jenem schmalen Grad, der künstlerische Qualität wesentlich ausmacht: Sie manipulieren nicht, sie inszenieren nicht, aber sie begnügen sich auch nicht damit, lediglich Fakten zu addieren. Es geht ihrem Autor nicht um die Verfertigung "schöner" und "interessanter" Ergebnisse, obwohl genau solche entstehen, aber es geht ihm auch nicht um die bloße Dokumentation eines Zustandes, obwohl genau diese mit Sorgfalt vorgenommen wird. Denn da ist noch etwas anderes, etwas dazwischen, etwas, das mit Reflexion und Einfühlung zu tun hat, das den Künstler als Betrachter und damit auch den Betrachter der Bilder ins Spiel bringt.

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Die Bilder der Völklinger Hütte mögen, bei oberflächlicher Wahrnehmung, an die "Foto-Skulpturen" der Bechers erinnern. Gerade dieser naheliegende Vergleich aber macht deutlich, dass Graubners Ansatz ein anderer ist. Graubner isoliert nicht das architektonische Monument, erhebt es nicht als Einzelstück auf den Sockel, stellt auch keine seriellen Systeme und Gattungs- Gruppierungen zusammen. Seine Bilder sind vielmehr die Ergebnisse von Streifzügen durch eine Landschaft, deren architektonische und skulpturale Aspekte Teile eines größeren und komplexeren Ganzen sind, "Produkt und Beleg meiner Bewegung in der Zeit", sie "gehören zu einer ganz auf persönliche Empfindungen begründeten Bildfindung. Es ist für mich ebenso wichtig, den für das Bild benutzten Raum selbst zu erfahren, wie dem Bild davon Gestalt zu geben. Insofern ist auch das Hin- und Zurückfahren Teil der Arbeit und permanent Wahrnehmung und Beobachtung kontextueller Räume". 3

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"Und was ist mit der Architektur?" fragt Graubner, nachdem er sich über die Stadt als politischen Raum und als "Experimentierfeld von Interessengruppen, Parteien und Investoren" Gedanken gemacht hat. Architektur ist immer schon abbildende Kunst gewesen. Graubner, sich selbst antwortend, bringt es auf diesen Nenner, und er charakterisiert damit zugleich den Kontext, den er in seinen Arbeiten thematisiert: "Die Architektur illustriert das Handeln und zählt die Tage".

Hans Gercke
Heidelberg, im April 1997

1 Alfred Nemeczek über ein Referat von Robotik-Professor Hans Moravec, in ART 4/1997
2 Alle Graubner-Zitate aus unveröffentlichten Notizen des Künstlers
3 Graubner 1994

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